Morgengrauen auf dem Pazifik. Himmel und Meer verschmelzen im Dunst und bilden eine blaugraue Melange. Ein interessanter Inselbesuch wurde uns angekündigt. Irgendeine Vogelinsel, nicht so mein Fall. Eher lustlos, vielleicht gepaart mit einem Fünkchen Neugier, suche ich den Horizont ab. Durch das Fernglas ist jedoch nur ein schmutzig-brauner Fleck zu erkennen. Auch als wir mit unseren Zodiacs ausbooten und uns der Isla Lobos de Tierra nähern, hält sich meine Begeisterung in Grenzen. Trocken sieht sie aus, kahl und offensichtlich unbewohnt – ein wenig einladendes Expeditionsziel. Doch ich sollte mich täuschen.
Die Insel liegt etwa sieben Kilometer vor der peruanischen Küste. Auf unserer dreiwöchigen Reise entlang der Westküste Südamerikas von Panama Richtung Feuerland haben wir das zehn Kilometer lange und bis zu drei Kilometer breite, sandiges Granit-Eiland nicht zufällig passiert. Ein Highlight sollte es sein. Abwarten. „Isla Lobos de Tierra“ bedeutet soviel wie „Insel der Landwölfe“. Tatsächlich sind damit wohl eher die Seelöwen gemeint. Schade, eine hautnahe Begegnung mit echten Wölfen auf einer einsamen Pazifikinsel hätte ich extrem spannend gefunden.
Wir landen an und meine anfängliche Skepsis weicht zunehmender Begeisterung. Isla Lobos de Tierra ist ein wunderbarer, ein rauer und vor allem ein sehr ursprünglicher Ort! Wir werden begrüßt von einem windschiefen, halb verfallenen Steg und ich folge den rostigen Bahngleisen zu den verlassenen Holzschuppen und knarzenden Wellblechgebäuden. Schon seit Kindertagen liebe ich das Erkunden solcher Geisterorte und klettere voller Überschwang über einen riesigen Anker, der pittoresk zum Charme dieser vergessenen Welt beiträgt.
Doch die eigentliche Attraktion der Isla Lobos de Tierra sind die Hundertschaften von Blaufußtölpeln, die hier völlig unbeeindruckt von unserer Anwesenheit brüten. In Ermangelung natürlicher Feinde zeigen die tropischen Meeresvögel keinerlei Berührungsängste gegenüber uns Besuchern und wir müssen uns vorsichtig unseren Weg durch die unzähligen Nistplätze bahnen. So ein wunderbar natürliches Verhalten zwischen Mensch und Tier ohne jegliche Scheu kannte ich bestenfalls von den Galapagos-Inseln.
Obwohl sich meine Ornithologie-Begeisterung im Allgemeinen in Grenzen hält, fasziniert mich hier sofort die intensive Blaufärbung der breiten Füße der gefiederten Inselbewohner. Sie sind auf eine besondere Anordnung von Collagen-Fasern in den lederartigen Schwimmhäuten zurückzuführen. Interferenzerscheinungen sorgen dafür, dass nur der blaue Spektralbereich optimal reflektiert wird. Allerdings verringert sich die Vitalität schon nach zwei Tagen mit reduzierter Nahrung (Mangel an Frischfisch-Carotinoiden) und damit nimmt auch die leuchtende Blaufärbung der Füße merklich ab. Die wissenschaftliche Erklärung dieses seltenen Phänomens erscheint mir fast unwichtig, denn für mich zählt nur das ebenso originelle wie optisch besondere Ergebnis: ich kann mich an den seltsamen Blaufüßlern kaum sattsehen.
Der merkwürdige Begriff „Tölpel“ (Tollpatsch) geht auf den lustigen Watschelgang und die scheinbare Ungeschicklichkeit der Tiere zurück, dabei sind es gewandte Flieger und geschickte Jäger beim Beutetauchen. Die hiesigen Gewässer sind äußerst fischreich, was an der kalten, salzarmen, oberflächennahen Meeresströmung des Humboldt-Stroms liegt. Von der Antarktis kommend, verdrängt die nordwärts gerichtete Strömung subtropisch temperierte Wassermassen und führt zu einem Auftrieb von nährstoffreichem Tiefenwasser. Dadurch wird hier weltweit am meisten Fisch pro Flächeneinheit produziert, wovon die etwa 40.000 Blaufußtölpel-Paare, die nur auf den trockenen Inseln im östlichen Pazifik brüten, profitieren.
Aufgeregt spaziere ich am Strand entlang und erklimme die flachen Hügel. Überall lassen sich die steinernen Nester, die gelb-grünlich gesprenkelten Eier, die nackten Küken und weiß-gefiederten Jungvögel mühelos bewundern. Ich kann mich nicht erinnern, Vogelbrut und Aufzucht schon einmal in dieser Qualität und aus solcher Nähe beobachtet zu haben. Dazu gehört auch das einzigartige Balzritual während der fast ganzjährigen Brutzeit der Blaufußtölpel. Ich muss meine ursprüngliche Meinung, Vögel sind generell langweilig, dringend revidieren.
Die gänsegroßen Männchen setzen ihre schönsten Körperteile – ihre himmelblauen Füße – bestmöglich in Szene, um die Weibchen zu bezirzen. Herumwackeln scheint nicht zu reichen, sie müssen regelrecht tanzen, um Eindruck zu machen. Abwechselnd werden die Beine angehoben und zeitlupengleich wird auf der Stelle gewatschelt. Dazu recken sie die spitzen Schnäbel und die Schwänze in die Höhe und stoßen schrille Pfiffe in die tropisch heiße Luft – ein lustiger Anblick und eine bemerkenswerte Performance.
Es ist heiß und ich schwitze permanent, doch durch immer neue Entdeckungen im Reich der Blaufußtölpel bemerke ich das gar nicht. Den beissenden Geruch kann ich jedoch nicht ignorieren. Bis 1863 wurde in dieser Gegend mehr als 7 Millionen Tonnen Guano unter unsäglichen Arbeitsbedingungen abgebaut.
In dem wüstenhaften Küstenklima wurde der Vogelkot wegen der Regenarmut nicht von den Felsen abgewaschen, sondern trocknete aus. Über Generationen reicherte sich somit eine unvorstellbare Menge an Vogeldung an. Auf den Chincha-Inseln vor der Südküste Perus waren die Guanohaufen bis zu dreissig Meter hoch.
Das feinkörniges Gemenge aus den Exkrementen von Seevögeln kam hauptsächlich als Dünger zum Einsatz. Die Blütezeit des Guano-Abbaus ist jedoch längst vorbei, denn die Ressource ist fast vollständig verschwunden. Außerdem lernte man, Anfang des 20. Jahrhunderts Stickstoffdünger synthetisch herzustellen. Dadurch verlor Guano seinen strategischen Wert.
Nur die verfallenen Einrichtungen zeugen heute noch von diesen wirtschaftlichen Aktivitäten. Immerhin, das Haus, in dem heute eine kleine Gruppe von Rangern wohnt, stammt aus dem Jahre 1940. Tatsächlich wurde im Jahre 1998 hier zum letzten Male Guano abgebaut. Zur wirtschaftlichen Blütezeit waren etwa 500 Menschen auf der Insel tätig. Die einstige Abbaustätte für Guano ist heute wieder reines Naturschutzgebiet und wurde ein einzigartiges Refugium für die Blaufußtölpel, dem man als Besucher mit großer Ehrfurcht begegnet.
Nie hätte ich gedacht, so unverhofft einen so einzigartigen Platz besuchen zu können, von dem ich nie zuvor gehört hatte und dem ich anfangs nicht sehr positiv gegenüberstand. Der Besuch der Isla Lobos de Tierras entwickelte sich völlig überraschend zu einem der beeindruckendsten Erlebnisse dieser Reise. Ein kleines Naturwunder mitten in den Weiten des Ozeans.